»Prinzipiell ist es beim Menschen wie bei den Bienen.« Mit diesem wenig originellen Vergleich begann un-sere Biologielehrerin ihren Aufklärungsunterricht. Eine Stunde war laut Lehrplan dafür vorgesehen, uns Teenager in das Geheimnis der menschlichen Fortpflanzung einzuweihen. Die grauhaarige Lehrerin wirkte an diesem Tag noch schmallippiger als sonst. Ich weiß bis heute nicht, wie es die Bienen treiben. Auch auf den sexuellen Kontakt zwischen Mann und Frau ging die Studienrätin nicht weiter ein. Stattdessen rollte sie zwei große Schautafeln aus – eine zeigte den Unterleib einer Frau, die andere den eines Mannes. Nachdem wir uns die Lage der männlichen Samenleiter, Hoden sowie des Penis, der weiblichen Eierstöcke und Gebärmutter notiert hatten, erklärte sie: Mann und Frau könnten die beschriebenen Geschlechtsteile vereinigen. Wie diese Vereinigung vonstatten geht, erläuterte die Lehrerin nicht näher.
Die Klasse kicherte. Jeder stellte sich vor, wie sie ihre Geschlechtsteile mit denen ihres Mannes, unseres Englischlehrers, vereinigte. Das Pausenläuten erlöste die Lehrkraft schließlich von ihrer Pflicht. Das Wort Orgasmus war nicht einmal erwähnt worden. Auch meine Eltern hielten sich in diesem Punkt bedeckt, wiesen mich jedoch auf die Gefahren hin, die der intime Kontakt mit Männern mit sich bringt: Ich solle mich in Acht nehmen und meine Jungfräulichkeit bewahren bis eines fernen Tages der Richtige käme, der mich dann auch heiraten würde.
Das alles geschah in den 70er-Jahren in einem Dorf, vierzig Kilometer von München entfernt. Die sexuelle Revolution hatte bereits eingesetzt, auch wenn sich das noch nicht überall herumgesprochen hatte. Die Anti-Baby-Pille war in jeder Apotheke zu haben, und die Buchhandlungen verkauften – zumindest unter dem Ladentisch – Oswalt Kolles Aufklärungsbücher über das sexuelle Empfinden von Mann und Frau, Verführungskünste und Orgasmen. Da mir diese Lektüre niemand empfohlen hatte, schlidderte ich mit 18 ziemlich unbedarft und mit größten moralischen Skrupeln in mein erstes sexuelles Abenteuer. Lustfeindliche Moral, die über Jahrhunderte die bürgerliche Gesellschaft geprägt hatte, hielt mich gefangen und ließ mich den Höhepunkt der Lust fürs Erste nur erahnen.
Wer versucht, die Ursachen der Lustfeindlichkeit zu entdecken, gerät schnell an die Wurzeln unserer Zivilisation: Die Evolutionsbiologen, die die Entwicklung von Tier und Mensch erforschen, halten männliche Orgasmen für grundsätzlich bedeutsamer als weibliche, da erstere für die Erhaltung der Art entscheidend, letztere jedoch überflüssig sind. Da der weibliche Orgasmus erklärungsbedürftig ist, nehmen die Forscher an, er diene der Paarbindung: Die Lust, die die Frau beim Geschlechtsverkehr empfindet, lasse sie auf mehr hoffen, weshalb sie ihrem Partner treu bleibe. Zufällig passt diese Vorstellung genau in das Klischee vom »ordentlichen« Sex in der Ehe.
Die schöne Theorie hat allerdings einen Haken: Sie lässt sich nicht beweisen. Wer weiß, ob unsere Vorfahren immer »ordentliche« Beziehungen geführt haben? Wenn jedoch die Lustfeindlichkeit nicht in unserem Erbgut verankert ist, woher kommt sie dann? Feministisch angehauch-te Autorinnen und Autoren halten die Einführung des Patriarchats für die Wurzel allen Übels: Mit ihr sei der Trieb des Mannes zum Maß aller Dinge erklärt, jener der Frau jedoch unterdrückt worden. Damit wäre die Geschichte des Orgasmus eine männliche, und Frauen hätten höchs-tens durch Zufall Spaß am Sex.
Tatsächlich war es anders. Die weibliche Lust hatte über Jahrtausende einen festen Platz im Miteinander, und die Geschichte des Orgasmus ist keineswegs einseitig. In der Antike galt der gemeinsame Höhepunkt von Mann und Frau sogar als Voraussetzung für die Empfängnis: »Die Reibung des Penis und die Bewegung des ganzen Mannes lassen die Flüssigkeit im Körper warm werden. In der Gebärmutter setzt ein Reiz ein, der Lust und Hitze im ganzen Körper produziert«, schrieb Hippokrates (um 460–375 v. Chr.). Nach Meinung des griechischen Arztes entstand durch sexuelle Hitze und Orgasmen neues Leben. Aëtios von Amida, der Arzt des oströmischen Kaisers Justinian, hielt im 6. Jahrhundert den Orgasmus der Frau gar für ein untrügliches Zeichen, dass sie empfangen hatte. Im Umkehr-schluss bedeutete dies, dass Frauen, die keine Lust empfinden, nicht schwanger werden können. Dieser Logik folgend wurde Frauen, die durch eine Vergewaltigung geschwängert worden waren, bis ins 18. Jahrhundert unterstellt, sie hätten Spaß dabei gehabt.
Die gemeinsame Lust von Mann und Frau war auch im Mittelalter etwas Selbstverständliches. Zwar hielt der Kirchenvater Augustinus »wollüstige Gier« für eine Sünde, da sie die Entfernung der Seele von Gott bedeute, doch die christliche Moral hatte kaum Einfluss auf das Liebesleben. Im Gegenteil: Nach dem damals gängigen »Zwei-Samen-Modell« mussten männliche und weibliche Samen auf dem Höhepunkt der Lust zusammenfinden, damit neues Leben entstand. Kurz gesagt: ohne Orgasmen keine Kinder.
Erst Syphilis und Pest bereiteten dem lockeren Miteinander ein Ende. An »Franzosenkrankheit« und »Schwarzem Tod« starben Hunderttausende. Die Glaubenshüter des 16. Jahrhunderts betrachteten die Seuchen als Strafe Gottes für das sündige Treiben der Menschheit. Um der gottlosen Lüsternheit ein Ende zu bereiten, wurden Herbergen, in denen Männer und Frauen gemeinsam übernachten konnten, sowie Badehäuser, wo Männer von leicht bekleideten Bade-mädchen umsorgt wurden, geschlossen.
Auch der Gesetzgeber begann nun, für Zucht und Ordnung zu sorgen – bis dahin war dies das Monopol der Kirche gewesen. Die »Peinliche Gerichtsordnung« des Heiligen Römischen Reichs von 1532 erklärte Ehebruch, Masturbation oder Homosexualität zur Straftat, da sie »den christlichen Ehebund, die Fortpflanzung und die männliche Autorität bedrohten«, schreibt der Wiener Sozialhistoriker Franz X. Eder in seinem Buch »Kultur der Begierde«. Und: »Vor allem vorehelicher und ehebrecherischer Geschlechtsverkehr avancierten zum Inbegriff des gesellschaftlichen Chaos.« Nur in den Ehebetten war Lust noch erlaubt und dem »Zwei-Samen-Modell« folgend auch notwendig für die Fortpflanzung.
Das Ende des Vergnügens kam mit der Reformation. Für die asketischen Protes-tanten, die Luthers theologische Ideen konsequent in ein Weltbild umsetzten, waren fleischliche Begierden unvereinbar mit einem wahrhaft christlichen Leben. Der eheliche Beischlaf war zwar erlaubt, alle anderen Formen sexueller Befriedigung galten nun aber als Sünde.
Das aufstrebende Bürgertum, das sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts anschickte, die feudale Gesellschaftsordnung aus den Angeln zu heben, griff diese Körperfeindlichkeit auf und erhob sie zum Ideal. Da traf es sich gut, dass die Mediziner mittlerweile eine wichtige Entdeckung gemacht hatten: Frauen haben keine Tes-tikel, sondern Ovarien. Zur Befruchtung des Eis durch Spermien ist weibliche Ekstase nicht notwendig. Die Lustfeindlichkeit des Bürgertums war jedoch mehr als Prüderie, sie war eine politische Botschaft: Da sich zu dieser Zeit der bürgerliche Mittelstand noch nicht durch Besitz, Kapital oder politische Macht gegen den Adel behaupten konnte, wurde die Beherrschung des Geschlechtstriebs zur Voraussetzung für den Einsatz von Vernunft, Emotion und Körper, so Eder.
Der neue, gesunde, natürliche und leistungsfähige »bürgerliche Körper« galt als Gegenpol zum verweichlichten Körper der Adligen, der durch den unnatürlichen Gebrauch der Sexualorgane degeneriert war. Die neue Lustfeindlichkeit scheint allerdings auch auf den Adel abgefärbt zu haben: Maria Theresia konsultierte 1736, nach ihrer Vermählung mit dem späteren Kaiser Franz I., den Leibarzt, weil sie nicht schwanger wurde. Dessen Empfehlung lautete: »Die Vulva Ihrer Allerheiligsten Majestät sollte vor dem Koitus gekitzelt werden.« Die Methode brachte den gewünschten Erfolg: Maria Theresia gebar mehr als ein Dutzend Kinder.
Die Prüderie der noch jungen bürgerlichen Gesellschaft ging Hand in Hand mit einer Neudefinition der Geschlechterrollen: Während der Mann dazu bestimmt war, in die Welt hinauszugehen und sich um Broterwerb und Arterhaltung zu kümmern, war es das Schicksal der Frau, sich auf die »drei Ks« – Kirche, Küche und Kinder – zu konzentrieren. Im Ehebett erwartete sie nicht Vergnügen, sondern Pflicht. Sie war zur Mutter geboren und existierte, wie es ein zeitgenössischer Autor ausdrückte, »nur dank ihrer Eierstöcke«.
Die medizinische Forschung, vor allem die noch junge Gynäkologie, stützte das neue Weltbild durch wissenschaftliche Erkenntnisse: Hatte man den Uterus jahrhundertelang für einen negativen Phallus gehalten, so galt er jetzt als das zentrale Organ der Frau und als Schlüssel zum Verständnis ihres Wesens. Nach der im 19. Jahrhundert herrschenden Lehrmeinung wurde das Denken der Frau durch Nerven geprägt, die von der Klitoris – dem schon seit 300 Jahren bekannten Zentrum weiblicher Lust – und den Ovarien über das Rückenmark di-rekt ins Gehirn führen. Der weibliche Orgasmus galt als Zeichen unzivilisierter Leidenschaft.
Wo Mediziner auf weibliche Lust trafen, hielten sie diese für krankhaft. In der Fachliteratur hieß es, die Selbstbefriedigung junger Mädchen führe zu spröder Haut, glanzlosen Augen und blassen Lippen, Schwindsucht und Nervenkrank-heiten wie Hysterie. Männliche Masturbation hielten die Ärzte für weniger gefährlich: Nur übertriebene Onanie und wiederholter Coitus interruptus riefen ihrer Überzeugung nach Nerven- und Willensschwäche hervor.
Damit war die Trennung von männlicher und weiblicher Sexualität perfekt: »Männer sollten im wissenschaftlichen Diskurs weiterhin die Herrschaft über ihre Begierde zugesprochen bekom-men«, schreibt Eder. »Weibliche Lust avancierte in den Augen der Wissenschaftler zur äußerst problematischen und deshalb intensiv zu beforschenden Lebensäußerung.«
»Dem mächtigen Drang der Natur folgend, ist der Mann aggressiv und stürmisch in seiner Liebeswerbung ... Anders das Weib. Ist es geistig normal, entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein Geringes. Wäre dem nicht so, müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein«, schrieb 1906 Iwan Bloch in seinem Buch »Das Sexualleben unserer Zeit«. Die zutiefst menschliche Angst vor Anarchie und Chaos wird hier an der weiblichen Sexualität festgemacht. Ihre Unterdrückung schaffte Sicherheit. So betrachteten die ersten Sexualwissenschaftler das Nebeneinander von männlicher Lust und weiblicher Frigidität als Grundvoraussetzung für alle menschliche Kultur. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie es in den Ehebetten zuging: Der Mann kümmerte sich stürmisch um die Fortpflanzung, die Frau musste ihre Lust, so sie überhaupt welche empfand, unterdrücken, um nicht als unzivilisiert oder gar verrückt zu gelten.
Tatsächlich erzeugte die Unterdrückung der Sexualität neue Krankheiten, die nun vor allem die Frauen des Bürgertums befielen. Der Erste, der diesen Zusammenhang erkannte, war der österreichische Nervenarzt Sigmund Freud (siehe Bericht ab Seite 58). Seine Beschäftigung mit dem weiblichen Orgasmus war für seine Zeit durchaus fortschrittlich, bei den Feministinnen des ausgehenden 20. Jahrhunderts traf er jedoch auf wenig Gegenliebe. Unmut erregte vor allem Freuds Behauptung, es gäbe bei der Frau zwei Orgasmusarten: Der klitorale sei pubertär, der vaginale hingegen Ausdruck der Reife. Was immer der berühmte Forscher mit dieser Differenzierung gemeint haben mag: Einen weiblichen Orgasmus ohne Stimulierung der Klitoris gibt es nicht. Doch wie die Zusammenhänge im Detail funktionieren, erkannten die Sexforscher erst Jahrzehnte später.
Einer von ihnen war der Amerikaner Alfred C. Kinsey. Der Insektenforscher an der University of Indiana bekam 1937 den Auftrag, Aufklärungskurse für Studenten abzuhalten – als renommierter Biologe, treu sorgender Familienvater und gläubiger Mensch schien er dafür prädestiniert. Kinsey studierte die einschlägige Literatur, und nachdem er dort keine statistisch aussagekräftigen Daten fand, führte er eigene Untersuchungen durch: Zusammen mit seinen Mitarbeitern interviewte er in den folgenden Jahren 18500 Freiwillige.
Er fragte nach Erfahrungen mit sechs verschiedenen Orgasmusarten: durch Sexualträume, Onanie, heterosexuelles Petting, heterosexuellen Geschlechtsverkehr, homosexuellen Geschlechtsverkehr und durch Kontakt mit Tieren. Seine Kinsey-Reporte, 1948 und 1953 veröffentlicht, waren für die Amerikaner ein Schock, denn sie enttarnten ihre puritanische Moral: 14 Prozent der befragten Frauen hatten bereits vor der Pubertät einen Orgasmus. Mit zwanzig waren es mehr als fünfzig Prozent. Und: Voreheliche Onanie steigert die Orgasmusfähigkeit im Ehebett, während die Unterdrückung des Sexualtriebs in der Jugend später Orgasmusschwierigkeiten hervorruft.
Kinsey beschäftigte sich aber nicht nur mit der weiblichen Sexualität. Bei Männern entdeckte er verschiedene Formen von Störungen: die ejakulatorische Impotenz, wobei der Mann trotz Erregung zu keinem Samenerguss fähig ist; erektive Impotenz – hier hat der Mann entweder keine Erektion oder er erschlafft im entscheidenden Moment; vorzeitige Ejakulation, also ein allzu schneller Samen-erguss, der laut Kinsey bei allen Säugetieren vorkommt.
Für den Biologen Kinsey lag der Vergleich mit dem Tierreich auf der Hand. Verlässliche Daten über das Liebesleben unserer nächsten Verwandten lieferten die Verhaltensforscher jedoch erst Jahrzehnte später. Die Bonobos etwa führen ein ausschweifendes Sexleben: Sie paaren sich – außerhalb der Brunftzeit – zum reinen Vergnügen. Die Weibchen treiben es mit verschiedenen Männchen und lassen sich auch, wenn ihnen eine leckere Frucht als Belohnung angeboten wird, auf neue Liebesabenteuer ein.
Was sie dabei empfinden, ist unter den Experten umstritten. Da man Affen nicht befragen kann, sind auch die Fachleute auf Spekulationen angewiesen. Manche Forscher meinen, dass alle männlichen Säugetiere bei der Ejakulation Orgasmen haben. Andere betonen, dass Samenerguss und Höhepunkt zwei Paar Schuhe sind – Ersteres ist ein rein reflexhafter Vorgang, Letzteres spielt sich überwiegend im Kopf ab. Praktische Versuche haben mittlerweile gezeigt, dass Primaten-Damen bei sexueller Stimulation dieselben körperlichen Reaktionen zeigen – zum Beispiel starren Gesichtsausdruck und erhöhte Herzfrequenz – wie die Vertreterinnen der Gattung Homo sapiens.
Die Kaskade körperlicher Phänomene, die beim Orgasmus ablaufen, wurde in den 1960er-Jahren wissenschaftlich unter-sucht. Pionierarbeit leistete hier der amerikanische Forscher William H. Masters mit seiner Assistentin Virginia E. Johnson: Die beiden filmten im Labor 694 freiwillige Probanden beim Onanieren und beim Beischlaf. Mittels eines durchsichtigen, künstlichen Penis konnten sie auch die verborgenen Vorgänge im Uterus der Frau untersuchen. Mehr als 10000 Orgasmen wurden protokolliert und ausgewertet.
Der Bericht von Masters und Johnson zeigt, dass Orgasmen nach einem bestimmten Muster ablaufen: Die Erregungsphase beginnt mit sexueller Stimulierung. Durch verstärkte Durchblutung wird der männliche Penis erigiert und die Vagina der Frau durch eine Gleitsubstanz befeuchtet, die von den Vaginalwänden ausgeschieden wird. In der Plateauphase steigt die Muskelspannung. Beim Mann schwellen die Hoden an und wandern nach oben, bei der Frau vergrößern sich Vagina und Uterus, die Klitoris zieht sich zurück. In der Orgasmusphase erreichen Puls, Blutdruck und Atmung Maximalwerte. Bei der Frau treten rhythmische Kontraktionen der Vagina in Abständen von vierfünftel Sekunden auf. Ein mäßiger Orgasmus äußert sich durch drei bis fünf Kontraktionen, ein starker durch acht bis zwölf. Die Kontraktionen des Mannes folgen demselben Rhythmus von vierfünftel Sekunden, dabei wird die Samenflüssigkeit ausgestoßen. In der Rückbildungsphase kehren die Organe in die Ausgangslage zurück, die sexuelle Spannung lässt nach.
Zugegeben, all das klingt überhaupt nicht romantisch. Dennoch wurde der Bericht von Masters und Johnson zu einer Bibel der sexuellen Revolution. Die Zeit der Tabus war vorbei. Die Flower-Power-Bewegung schwappte auch auf die Bundesrepublik über: Die 68er protestierten lautstark gegen bürgerliche Moralvorstellungen und Verklemmtheit. Sex, egal wo und mit wem, wurde zum Zeichen der Befreiung und der Verbrüderung. Motto: »Make Love, Not War«.
Auch die Frauen meldeten sich nun zu Wort. Ihre Lust, jahrhundertelang totgeschwiegen, wurde zum Thema nächtelanger Diskussionen und dicker Bücher – das berühmteste von ihnen: der Hite-Report. Der weibliche Orgasmus war jetzt aus ideologischen Gründen genauso wichtig wie der männliche. Der gemeinsame Orgasmus war nun wieder erstrebenswert und wurde sogar zu einem Qualitätskriterium für Beziehungen. Auf diese Weise mutierte die sexuelle Befreiung zum sportlichen Wettkampf, bei dem es darum ging, im Bett möglichst »gut« zu sein.
Nachdem der Orgasmus der Frau einmal im Rampenlicht stand, kamen den Vertretern des starken Geschlechts Zweifel an der Ehrlichkeit ihrer Partnerinnen: Waren deren Höhepunkte echt oder nur vorgetäuscht? Die Filmindustrie griff das Thema auf: In der Komödie »Harry und Sally« aus dem Jahre 1989 ist der gespielte Orgasmus eine Schüsselszene: Harry, ein von seinen Fähigkeiten als Liebhaber überzeugter Student, ist sicher, dass ihm noch nie eine Frau etwas vorgemacht hat. Sally beweist ihm mit einer gekonnten Simulation in einer Cafeteria das Gegenteil. Merke: Mann kann sich nie sicher sein.
Mittlerweile gibt es Methoden, mit denen sich die Qualität des weiblichen Orgasmus bestimmen lässt, allerdings sind diese wenig geeignet, um im heimischen Ehebett die Redlichkeit der Partnerin zu prüfen. Die Forscher verwenden Positronen-Emissions-Tomografen (PET), um Hirnareale sichtbar zu machen, die beim Orgasmus aktiv sind. Jüngstes Ergebnis: Beim vorgetäuschten Orgasmus ist die Großhirnrinde aktiv, während der echte Orgasmus – egal ob bei Frau oder Mann – vom ventralen Tegmentum, einer Region im oberen Stammhirn, gesteuert wird.
Dieses ventrale Tegmentum ist Teil des Belohnungssystems: Werden dort Neurotransmitter ausgeschüttet, erleben wir das als lustvoll. Dieselbe Wirkung lässt sich übrigens mit Drogen wie Heroin erzielen. Tatsächlich vergleichen Süchtige das Gefühl, high zu sein, oft mit einem Orgasmus. Macht also auch Sex süchtig? Die Frage ist bis heute nicht geklärt, da es keine deutliche Grenze zwischen normalem und abnormem Sexualtrieb gibt. Tatsache ist: Es gibt Selbsthilfegruppen für Sexsüchtige, die unter »hypersexuellem Verhalten« leiden und bereit sind, sich durch Abstinenz zu entwöhnen.
Die sexuelle Revolution ist heute Geschichte. Und doch ist nichts mehr wie es war. »Was wir derzeit erleben, ist nicht mehr die moralische Unterdrückung des Sexuellen, die in der bürgerlichen Gesellschaft vorherrschte, sondern ein gene-relles Desinteresse an Sexualität«, urteilt Georg Gfäller, Psychoanalytiker aus München. »Die Asexualität drückt sich aus in einem Rückgang der Körperkontakte. Begierde wird oft nur durch neue Kontakte geweckt, in Beziehungen, die länger bestehen, nehmen die sexuellen Begegnungen ab.« Über die Ursachen der neuen Lustfeindlichkeit lässt sich nur spekulieren: Hat sich marktwirtschaftliches Denken so tief in unsere Köpfe eingegraben, dass wir auch beim Sex nur nach dem Nutzen fragen und das gemeinsame Erleben vergessen? Oder leiden wir an sexueller Reizüberflutung?
Möglicherweise gibt es für die Asexualität der Postmoderne auch eine ganz einfache Erklärung: Orgasmus macht Angst. Auf dem Höhepunkt der Lust verlieren wir die Kontrolle über unseren Körper. »Ein Orgasmus erinnert immer an die eigene Körperlichkeit und damit auch Sterblichkeit«, sagt Gfäller. Diesen un-angenehmen Beigeschmack tilgten unsere Vorfahren, indem sie die Trennung von Körper und Geist einführten: Die Sexualität der Frau – der Vertreterin des Körperlichen – wurde unterdrückt, dem Mann hingegen Geist und damit ein Stück Unsterblichkeit zugebilligt.
Die sexuelle Revolution und die Emanzipation der Frau spülten die klassische Aufspaltung über Bord. Übrig blieben Männer und Frauen, die sich vor sich selbst fürchten, meint Gfäller: »Aus Angst geben sich Männer oft mit einem Samenerguss oder Frauen mit einem wenig intensiven Höhepunkt zufrieden und verwechseln diesen mit einem den ganzen Körper erfassenden Orgasmus, einem Schwindel erregenden Hochgefühl, bei dem man Halt, Orientierung und auch das eigene begrenzende Ich verliert, um mit dem Partner zu verschmelzen.«
Wirklich schade, dass uns dieser Aspekt im Aufklärungsunterricht verschwiegen wurde!
Autor(in): Monika Weiner
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