Anfangs hatten ein paar Gutsherren nur ihre eigenen Milizen angeheuert, um Konkurrenten einzuschüchtern. Doch schon bald entwickelte sich das organisierte Verbrechen in Sizilien zum Staat im Staat.
Der Arm der Ma?a ist sprichwörtlich lang, und wer in die Fänge der »ehrenwerten Gesellschaft« gerät, kann sich meist schwer wieder aus ihnen befreien. Wie sich das anfühlt, wenn man es am eigenen Leibe erfährt? Stellen Sie sich doch einfach vor, Sie lebten im Jahr 1872 in Italien. Sie arbeiten als Chirurg in Neapel, und Ihr Name ist Doktor Gaspare Galati. Plötzlich stirbt Ihr Schwager, und Ihre Frau erbt dessen große Plantage für Zitrusfrüchte nahe der Ortschaft Malaspina, westlich von Palermo auf Sizilien. Kaum sind Sie dort eingezogen, trägt man Ihnen das Gerücht zu: Ihr Schwager, Signor Riella, habe kurz vor seinem Tod einen Drohbrief erhalten. Das habe ihn dazu ver-anlasst, sich in seiner Villa einzusperren, wo er offenbar vor lauter Angst und Aufregung gestorben sei.
Als wäre das nicht schon beunruhigend genug: Sie stellen fest, dass der Aufseher der Plantage, ein gewisser Benedetto Carollo, im letzten Jahr sage und schreibe 25 Prozent des Bruttogewinns als Gehalt beansprucht hat. Und es kommt noch besser: Er hat auch vom restlichen Gewinn die Hälfte in die eige-ne Tasche gesteckt. Als Sie Carollo zur Rede stellen, leugnet er nicht einmal. Sie kündigen ihm sofort, doch er weigert sich zu gehen! Stattdessen heuert er zwei Männer als persönliche Leibwächter an. Allmählich fragen Sie sich, ob es vielleicht klüger wäre, die unglückselige Plantage so schnell wie möglich zu verkaufen. Doch Carollo sabotiert auch dieses Vorhaben: Er verjagt jeden, der das leiseste Kau?nteresse zeigt. Mit wachsender Verzweiflung stellen Sie einen neuen Aufseher ein. Doch der wird nach nur wenigen Tagen aus dem Hinterhalt überfallen und ermordet. Endlich gehen Sie zur Polizei. Die verspricht Hilfe – tut aber nichts.
Ein schönes Mädchen bezeichnete man ursprünglich als »Ma?osa«
Diese wahre Begebenheit gleicht einem Albtraum, und deshalb sollen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, jetzt auch wieder aus der wenig beneidenswerten Rolle des Doktor Galati entlassen werden. Dessen Situation entpuppt sich nämlich zusehends als hoffnungslos, weil hinter seinen erheblichen Schwierigkeiten niemand anderes steckt als die Ma?a. Aber was heißt das eigentlich, »die Ma?a«, und wer war und ist diese Organisation? Heute bezeichnen wir in der Umgangssprache schnell mal eine illegale Vereinigung oder kriminelle Clique – egal aus welchem Land – als »Ma?a«. Die eben beschriebene Geschichte handelt jedoch von der »wahren« Ma?a.
Die echte Ma?a gibt es nur auf Sizilien – genauer gesagt, im westlichen Sizilien um die Stadt Palermo herum, in einer fruchtbaren Gegend mit dem Namen »Conca d’oro«, »goldene Muschel«. Die Ma?a ist nicht mit der »Camorra« aus Neapel oder der »’Ndrangheta« aus Kalabrien zu verwechseln. Und noch ein wichtiger Punkt: Als Doktor Galati bei der Polizei seine Anzeige gegen Un-bekannt einreichte, war das Wort »Ma?a« in der Bedeutung von »Ver-brecherverein« erst seit wenigen Jahren gebräuchlich.
Die ursprüngliche Bedeutung von »ma?a« war »Schönheit« oder »Außergewöhnlichkeit«. Die Sizilianer betitelten einen draufgängerischen jungen Mann als »ma?oso« und ein hübsches Mädchen als »ma?osa«. Um das Jahr 1860 begann man dann im örtlichen Slang auch die kleinen Betrüger, die in den Straßen Palermos herumlungerten, als »ma?osi« zu bezeichnen. Kaum fünfzehn Jahre später aber hatte eine exzellent strukturierte, kriminelle Organisation die gesamte »Conca d’oro« fest im Griff, und jeder nannte sie schlicht »Ma?a«.
Patriotische Geheimorganisationen schüchterten die Herrschenden ein
Um zu verstehen, wie dies geschehen konnte, müssen ein paar Fakten über Sizilien dargelegt werden. Das Eiland ist mit 25426 Quadratkilometern die größte Insel des Mittelmeers und wurde seit der Antike fast ununterbrochen von fremden Mächten beherrscht. Phönizier, Griechen, Römer, Wandalen, Byzantiner, Araber, Normannen, Staufer, Franzosen und Spanier eroberten Sizilien – in dieser Reihenfolge. Und die Herrschaftsmuster wiederholten sich: Unterdrückung und Ausbeutung der Einheimischen.
Wie viele ihrer Zeitgenossen in ganz Europa, wagten auch die Sizilianer im 19. Jahrhundert die Revolution: Um ihre Autonomie zu erkämpfen, begehrten sie 1820 und erneut 1848 gegen die Bourbonen auf. Allerdings vergebens. Erst 1860, während des »Risorgimento«, des Kampfes um die nationale Einheit Ita-liens, wurden diese letzten fremden Machthaber von der Insel vertrieben. Das Chaos des Umsturzes nutzten einige kriminelle Elemente zu ihrem Vorteil. Straßenräuber – so genannte Briganten – hatte es seit Jahrhunderten gegeben. Doch die ständigen Machtkämpfe und die Anarchie dieser Zeit begünstigten das Gedeihen einer neuen Art von Verbrechertum.
Schon 1820, zur Zeit des ersten Aufstands gegen die Bourbonen, hatte so mancher sizilianische Freiheitskämpfer Zuflucht in patriotischen Geheimorganisationen, »Carbonari« (= Köhler), gesucht. Man strukturierte sich nach dem Vorbild der Freimaurer, also in Hierarchien, durch Schwüre und Geheimhaltung. 1838 berichtete Pietro Calà Ulloa, ein Ratsherr von Palermo, es gebe einflussreiche »Sekten«, die zum Verdruss der Herrschenden ihr Unwesen trieben. Manche »Urväter« der späteren Ma?a waren schon Mitglieder dieser Geheimgesellschaften, die damals noch keine kriminellen Vereine waren.
Viele der adligen Grundbesitzer und Gutsherren lebten nicht auf Sizilien, sondern auf dem Festland oder sogar im Ausland – in Neapel oder in Spanien. Ihre Plantagen verwalteten Aufseher, Wächter und Steuereintreiber. Nicht wenige dieser »Stellvertreter« erwarben im Laufe der Zeit Ansehen und Macht, und nicht selten bereicherten sie sich auf Kosten ihrer abwesenden Arbeitgeber. Schließlich liefen die Geschäfte immer besser, seit sich Zitrusfrüchte als großer Exportschlager erwiesen. Denn Anfang des 19. Jahrhunderts hatte man die Wirkung der Zitrone im Kampf gegen Skorbut entdeckt. Auf den Plantagen ging es auf einmal um sehr viel Geld. Aber auch die Besitzer von Schwefelminen wurden reich, weil der Rohstoff während der industriellen Revolution begehrt war.
Im Wettbewerb um die gut bezahlende internationale Kundschaft steigerte sich die Rivalität der verschiedenen Plantagen immer mehr, und manche Gutsherren – oder ihre Verwalter – schafften sich private Milizen an, um Konkurrenten einzuschüchtern und zum Verkauf zu zwingen. Im Revolutions-jahr 1848 schickte König Ferdinand II. aus Neapel einen gewissen Salvatore Maniscato, der für Ordnung sorgen sollte. In seinem Eifer ließ der Statthalter sowohl den sizilianischen Mittelstand als auch den traditionellen Adel zerschlagen. Das Resultat: Ein noch größeres Machtvakuum, das Kriminelle für ihre Zwecke ausnutzen konnten.
Die ersten »Bosse« der Ma?a waren Typen, die als ehemalige Revolutionäre gelernt hatten, mit Macht umzugehen. Die meisten Gutsherren waren froh über diese erfahrenen »soldati« als Aufseher und Wächter. Bald gelang es einigen, selbst Plantagen zu pachten. Sie stiegen gesellschaftlich auf – verkehrten mit dem Adel, Politikern oder Richtern. Und: Sie verfügten über ein loyales Personal. Schon 1860 gab es in der »Conca d’oro« mehrere Ma?agruppierungen, die sich nach dem Vorbild der »Carbonari« organisiert hatten. Nach außen lebten ihre Anführer wie redliche Bürger. Anders als frühere Bandenchefs pflegten sie das Bild vom ehrwürdigen Patrioten – und zogen die Fäden stets im Verborgenen.
Die ersten Gruppen der Organisation entstanden in den Städtchen Corleone, Monreale, Palermo, Uditore und natürlich Malaspina, wo Doktor Galati Gutsherr geworden war. Das Wort »ma?a« tauchte of?ziell zum ersten Mal 1865 in einem Bericht des Polizeipräfekten von Palermo auf: Graf Filippo Antonio Gualterio bezeichnete die Ma?a als »verbrecherische Vereinigung«.
Jede Plantage, jedes Städtchen und jeder Vorort besaß als kleine Einheit einen eigenen »capo« (Kopf), einen Chef, der die Geschäfte führte. Manchmal schlossen sich die Einheiten zusammen, um die Gewinne zu maximieren – manchmal bekämpften sie sich. Einer der ersten historisch belegten Ma?abosse war ein gewisser Salvatore Licata. Er wurde 1805 geboren und hatte in allen Kriegen gegen die Bourbonen gekämpft. Seine Methode des Geldverdienens: Er verlangte von seinen reichen Nachbarn ein Schutzgeld, um sie vor Verbrechern zu schützen. De facto bedeutete dies: Licata kassierte Geld, damit er nicht gegen seine Nachbarn vorging! Mit dieser Art der Erpressung wurde er steinreich und zum Vorbild für andere. 1860 war er als Patriot an der Seite von Giuseppe Garibaldi für die italienische Sache eingetreten. Aus Dankbarkeit ernannten ihn die neuen Herrscher zum Polizeichef von Colli, einem Vorort von Palermo.
Nach und nach gingen die Plantagen an ihre Verwalter über
Der bedeutendste Ma?oso der »ersten Generation« war Antonino Giammona. 1819 in tiefster Armut in einem Vorort von Palermo geboren, nahm auch er 1848 am Aufstand gegen die Bourbonen teil. Nebenher verdiente er sein Geld als Bandit und wurde so wohlhabend, dass er ein großes Landgut nahe Palermos Vorstadt Uditore pachten konnte. Nach dem »Risorgimento« zählte er zu den reichsten Landbesitzern West-siziliens. In der Öffentlichkeit genoss er hohes Ansehen, die neue Regierung machte ihn sogar zum Hauptmann der Nationalgarde. Er wiederum spendete großzügig für das örtliche Franziskanerkloster und engagierte sich als Vorsitzender eines Grundeigentümervereins. Entscheidend für seinen Erfolg waren aber seine Verbindungen hinter der Fassade: seine enge Freundschaft mit Salvatore Licata und anderen Kriminellen.
Doch kehren wir noch einmal zur Geschichte von Doktor Galati zurück. Dessen ererbte Plantage befand sich nämlich im Bezirk Colli – das heißt, genau in der Gegend, in der Salvatore Licata Polizeichef war. Das Gebiet Malaspina gehörte zum Territorium der Ma?a. Kein Wunder, dass der Doktor wenig Hilfe von der örtlichen Polizei zu erwarten hatte. Auch Galati verstand allmählich die Zusammenhänge. Erneut stellte er einen vertrauenswürdigen Aufseher ein, Signor Cusumano. Erneut gab es ein Attentat. Doch wie durch ein Wunder überlebte Cusumano, der die Angreifer erkannte: Carollo und zwei seiner Leibwächter. Cusumano erklärte sich bereit, gegen sie auszusagen. Wenige Tage später erhielt Galati jedoch einen Drohbrief: Sollte Cusumano gegen Carollo aussagen, wäre keiner aus Galatis Familie mehr seines Lebens sicher. Das reichte: Doktor Galati zog mit seiner Familie zurück nach Neapel.
Antonino Giammona triumphierte. Er hatte endlich erreicht, worauf er die ganze Zeit aus gewesen war: Er bekam die fruchtbare Plantage des Nachbarn. Nebenbei stellte sich später heraus, dass der verstorbene Schwager Riella auch nicht ganz ohne Schuld an den Vorfällen war. Offenbar hatte er selbst den Streit mit dem mächtigen Giammona angezettelt: Doktor Galatis Schwager besaß ebenfalls Verbindungen zur Ma?a.
Die Mitglieder der »ehrenwerten Gesellschaft« bezeichneten sich Ende des 19. Jahrhunderts als »Bruderschaften«, die es sich zur Aufgabe machten, die Armen, die Schwachen, die Kinder und die Ehre der Frauen zu schützen. Die Familie ging den Ma?osi über alles und bildete den Kern für ihr »Unternehmertum«. Dabei wurde der enge biologische Kreis von Verwandten durch Heiraten und Patenschaften erweitert. Um die Loyalität des kleinen Mannes zu erkaufen, schütteten sie unter den Armen »Dividenden« aus. Die höchste Tugend der »Bruderschaft« war die »omertà«, die Bescheidenheit. Gemeint war nichts anderes als die Schweigepflicht. Wer die »omertà« verletzte, hatte nicht mehr lange zu leben.
Die Ma?osi waren die ersten Verbrecher, die es verstanden, ihre kriminellen Aktivitäten zu einem regelrechten Wirtschaftszweig auszubauen. Schon Giammona bemühte sich stets um gute Beziehungen zu seinen »soldati«, zum einfachen Volk und zu den Aristokraten und Politikern seines Landes. Er zog alle Fäden, vermittelte Leistungen, Güter und Informationen. Um die Jahrhundertwende hielt die Ma?a die sizilianische Gesellschaft bereits fest im Griff.
Als 1893 ein Attentat gegen den ehemaligen Generaldirektor der »Banco di Sicilia« verübt wurde, munkelte man, Emanuele Notarbartolo habe einen Bericht über Unregelmäßigkeiten in der Bank veröffentlichen wollen. Sein Sohn Leopoldo suchte hartnäckig nach dem Mörder. Im Verlauf der Untersuchungen tauchte auch der Name »Giammona« auf. Die Liste der Verdächtigen führte bis ins Parlament. Doch alle Anklagen endeten mit Freispruch.
1875 schaffte die Ma?a dann den Sprung nach Amerika. Ihr erster Ableger entstand in New Orleans, weitere im Zuge der massiven Auswanderungswelle aus Sizilien in New York und Chicago. Nur einmal wurde die Existenz der Ma?a ernsthaft bedroht: zur Zeit des Faschismus. Benito Mussolini schickte 1924 den Polizeipräfekten Cesare Mori nach Sizilien. Tausende von Ma?osi wanderten während seiner Aufräumaktion ins Gefängnis. Der Grund für Moris Erfolg: »Wenn die Sizilianer Angst vor den Ma?osi haben«, sagte der Präfekt, »werde ich sie überzeugen, dass ich der stärkste Ma?oso von allen bin.«
Nach 1943 wurde die Ma?a wieder in Sizilien stark – mit Hilfe der USA
Die Invasion der Alliierten fand nicht ohne Grund in Sizilien statt. Im Kampf gegen Hitler und Mussolini hatten die antifaschistischen und antikommunistischen Ma?osi ihre Verbindungen nach Italien spielen lassen. Die USA nutzten das kriminelle Netzwerk und ließen zum Dank viele Ma?osi frei. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten auch viele italo-amerikanische »Ehrenmänner« in ihre Heimat zurück. Der Schwerpunkt der Geschäfte lag bald nicht mehr bei der Schutzgelderpressung: Die »Cosa Nostra« (Unsere Sache), wie sich die Ma?a in Amerika genannt hatte, spezialisierte sich auf den Drogenhandel und erlangte durch Bestechung und Erpressung teils erheblichen Einfluss auf die örtliche Politik.
Heute hat die Ma?a längst den Status eines Kartells mit internationalen Verbindungen. Trotz großangelegter Razzien und spektakulärer Verhaftungswellen in den letzten Jahrzehnten weiß keiner, wie viel Macht die Ma?a in Italien heute noch ausübt. Immerhin behaupten Untersuchungen aus dem Jahr 2006: Durch Schutzgeld-erpressung soll die Ma?a allein auf Sizilien pro Jahr sieben Milliarden Euro einnehmen.
Autor(in): P.J. Blumenthal
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